Die Ketten sprengen – Werbung für das Wahlrecht vor 1918

Von Kerstin Wolff

Spätestens seit 2015, als der britische Film "Suffragette – Taten statt Worte" von Sarah Gavron in die Kinos kam, kennen fast alle Menschen die kämpferischen Wahlrechtsaktivistinnen aus Großbritannien. Sie warfen Scheiben ein, ließen Briefkästen explodieren, fluteten die Orgel in der Londoner Albert Hall und ließen sich öffentlichkeitswirksam verhaften, um dann im Gefängnis in den Hungerstreik zu treten. Was diese Frauen für eine aus heutiger Sicht gemäßigte Wahlreform hinnahmen, scheint bemerkens- und bewundernswert. 

Dabei wird fast immer übersehen, dass diese Art des Kampfes nur von einer Minderheit in Großbritannien durchgeführt wurde, es aber in allen Ländern weltweit Bewegungen zum Erreichen des Frauenwahlrechtes gab. So auch in Deutschland! Dabei setzten auch hier die Aktivistinnen auf Sichtbarkeit und Werbung. Spätestens nach 1908, als die Forderungen nach dem Frauenwahlrecht richtig Fahrt aufnahmen, sollte jede und jeder mit der Forderung in Berührung kommen, auch und gerade an Orten, die nicht von vornherein mit diesem Thema verbunden waren. Und so entwickelten die Frauen des Verbandes für Frauenstimmrecht in dieser Zeit diverse Werbematerialien, z.B. Frauenstimmrechtskarten, Broschüren, Zeitungen, Anstecker, Sammeldosen und eben auch kleine Stimmrechtsmarken, die auf jeden Brief geklebt werden konnten. Bei einer solchen Sendung war dann ganz klar, dass die Absenderin sich für das Frauenwahlrecht einsetzte und auch öffentlich dafür warb. Dass dies wichtig war, wurde in der eigenen Zeitung, in der Zeitschrift für Frauen-Stimmrecht immer wieder den Abonnentinnen klargemacht. Dort war zu lesen:

Vergesst nicht auf alle Postsachen die Stimmrechtsmarke zu kleben! ...
Versendet von allen Plätzen nur Stimmrechtskarten.
Zeitschrift für Frauen-Stimmrecht, 2. Jg., 1908, Nr. 7, S. 30

Die Idee war einfach, aber effektiv, denn ausgestattet mit einer Stimmrechtsmarke, auf der eine Frau zu sehen war, die ihre Ketten sprengte, reiste die Forderung nach dem Stimmrecht auf jedem Brief in die Welt. Jeder Postangestellte und alle Briefträger, die Empfängerin oder der Empfänger und alle diejenigen, die mit dieser Post in Berührung kamen, wurden mit dieser politischen Forderung konfrontiert. Damit wurden Personenkreise erreicht, die von diesen Initiativen bisher noch nichts gehört hatten. Man stelle sich nur einmal vor, ein solcher Brief oder eine Stimmrechtskarte fand seinen Weg bis in die ostelbischen Dörfer und der Postbote musste diese Sendung bis zu seinem Bestimmungsort transportieren. Die fremde Werbemarke oder die Karte mit dem symbolträchtigen Logo wird sicher ihm und allen anderen aufgefallen sein. Aber damit nicht genug! Gerade zur Reisezeit – so ist es in der Zeitschrift ebenfalls nachzulesen – sollten auch die Aktivistinnen zu ihrem Engagement stehen und das Stimmrechtsabzeichen sichtbar auf der Reise tragen. So konnte jede*r im Zug oder auf dem Schiff gleich erkennen, dass neben ihm oder ihr eine Stimmrechtsaktivistin saß. 

Welchen Anteil diese Propagandaarbeit für das Stimmrecht – so der damalige Ausdruck – bei der Erreichung des Frauenwahlrechts in Deutschland letztendlich hatte, kann heute nicht mehr gesagt werden. Das vielseitige Werbematerial zeigt uns aber deutlich, dass auch im deutschen Kaiserreich für das Frauenwahlrecht gestritten wurde, dass es auch hier Aktivistinnen (und wenige Aktivisten) gab, die sich für dieses Frauenrecht einsetzten und dies auch öffentlich zeigten. In Zeiten zunehmender Wahlmüdigkeit und dem andauernden Ringen um Parität in den Parlamenten ist es mehr als sinnvoll, an diesen Kampf zu erinnern.

 

Der Text stammt von Kerstin Wolff vom Archiv der deutschen Frauenbewegung. Wir bedanken uns herzlich für die Bereitstellung des Textes und die schöne Objektgeschichte, die zeigt, wie ein kleines Objekt wie die Stimmrechtsmarke zur Verbreitung großer Ideen genutzt wurde.

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